Visual AI – Wird die Kamera das neue Keyboard?

Von Mischa Hammann

Seit zwei Jahrzehnten suchen wir online Dinge, indem wir Wörter in ein Suchfeld tippen. Mit der immer besser werdenden Spracherkennung liegt es nahe, dass sich unser Suchverhalten in den kommenden Jahren verändern wird. Wir werden Alexa, Siri und Co. einfach fragen, wonach wir suchen. Aber wie und warum sollte eine visuelle Suche mit einer Kamera das für uns tun? Eine Frage, die nicht so abwegig ist, wie es scheint, meint Autor Mark Wilson in seinem Artikel über Visual AI und die Arbeit des Tech-Unternehmens Pinterest.

Der Nutzen von Visual AI in Bildnetzwerken

Vor rund eineinhalb Jahren hatten die Entwickler des sozialen Bildernetzwerks Pinterest das Programm „Lens“ soweit entwickelt, dass es das Bild einer Avocado erkannte und daraufhin selbständig tausende Bilder von Avocados heraus suchte. Das mag vielleicht banal klingen, ist aber ein hochkomplexer und sehr fehleranfälliger Vorgang. Insofern ist die Ingenieurleistung hoch einzuschätzen. Nur – welchen Nutzen hat diese Technologie?

Die Antwort gab Pinterest Kreativ Direktor Albert Pereta selbst: Gar keinen. Eine Avocado zu erkennen um anschließend unzählige Bilder weiterer Avocados zu zeigen ist ziemlich nutzlos. Dennoch war diese Erkenntnis nicht das Ende des Programms, sondern so etwas wie der Kickstarter. Das Team um Pereta fragte sich, was wäre, wenn Pinterest als Ergebnis auf die erkannte Avocado stattdessen Rezepte präsentieren könnte. Oder Anbautipps oder sinnvolle Informationen, was man mit Avocado noch alles machen kann? Das hätte einen Nutzen. Einen großen sogar, denn Personalisierung spielt eine zunehmend wichtigere Rolle. Es dauerte also nicht lange, da zeigte die App auf das Bild einer Avocado, wie man eine leckere Guacamole macht.

Die visuelle Suche wird unsere Gewohnheiten verändern

Diese Geschichte gibt Hinweise darauf, wie Pinterest das Thema Visual AI sieht. Es ist nicht weniger als eine komplette Umkrempelung unserer Gewohnheiten, wie wir suchen, wie wir shoppen, wie wir essen.

Das klingt weit hergeholt? Ein Blick auf einige Zahlen verschiebt diese Perspektive schnell: Erst rund 20 Jahre lang suchen wir Dinge, indem wir Wörter in ein Suchfeld eingeben. Heute ist Google eines der mächtigsten Unternehmen der Welt mit über 28 Milliarden Dollar Umsatz durch Suchmaschinen Werbung (SEA). In Zahlen 28.000.000.000. Das Potenzial von Voice Search mit Alexa, Siri, Google Assistent lässt sich so langsam erahnen, wenn wir sehen, wie selbstverständlich nachkommende Generationen bereits mit sprachgesteuerten Geräten interagieren. Wie hoch das Potenzial der visuellen Suche sein wird, ist kaum absehbar. Besonders wenn wir uns vorstellen, dass die Technologie des Smartphones in Zukunft nicht mehr in der Hosentasche verschwindet, sondern direkt auf unserer Nase sitzt.

Pinterest CEO Ben Silbermann ist davon überzeugt, dass die Kamera das neue Keyboard wird. Und visionär war der verhältnismäßig kleine Social Media Kanal schon immer: Das Unternehmen setzte früh auf die Kraft Künstlicher Intelligenz. Bereits 2014 verpflichtete es KI Entwickler, um die Funktion des „Related Pins“ – die Vorhersagen trifft, was dem Besucher auch gefallen könnte – zu optimieren. Vor dem Einsatz von KI generierte die Funktion immerhin schon zehn Prozent des gesamten Traffics. Heute – dank KI – ist sie für 40 Prozent des User Engagements verantwortlich.

Ein inspirierendes Suchergebnis ist immer ein Treffer

Aber der Einsatz von KI ist längst kein Alleinstellungsmerkmal mehr. Vermutlich sind Budget und Manpower der Branchenriesen Google, Amazon und Facebook um ein vielfaches höher als das von Pinterest. Dennoch hat Pinterest etwas, dass die anderen nicht haben – 200 Millionen treue User mit einer gemeinsamen Mission: Bilder für ein besseres Leben zu pinnen: Life Hacks für das schönere Bad, der Tipp für den perfekten Abenteuertrip oder einfach ein gesunder Snack.

Und so wird es nicht die Aufgabe von Pinterests KI sein, Dinge zu finden, die der User sucht, wie Google das macht, sondern Dinge für ihn zu finden, von denen er gar nicht wusste, dass er sie brauchen könnte. Wenn Pinterest das schafft, könnte die visuelle Suche eine neue Welt mit ungeahnten persönlichen Entdeckungen für die Menschen eröffnen.

Anders ausgedrückt: Pinterests Visual AI kann das Ziel verfehlen und dennoch einen Treffer landen. Solange der Suchende den Vorschlag sinnvoll oder gar inspirierend findet, wird er zufrieden sein. Bei Google eine undenkbare Vorstellung. Da wird auf die Frage „Wie grille ich Fisch“ möglichst auf der ersten Seite die eine perfekte Antwort erwartet. Bei Pinterest hingegen kann auch eine unspezifische Suche wie „Ideen für Meeresfrüchte“ und das daraus resultierende unspezifische Ergebnis zufriedenstellend sein.

Visual AI ermöglicht ganz neue Umsatzmöglichkeiten

Lässt sich damit Geld verdienen? Oh ja! Zeit, noch einmal ein paar Zahlen auf den Tisch zu legen: 93 Prozent der aktiven User nutzen Pinterest im Vorfeld einer Anschaffung und 87 Prozent haben etwas gekauft, dass sie durch Pinterest entdeckt haben. Dies ist durch eine Studie von Millard Brown belegt. Und spätestens bei der nächsten Zahl sollten alle Markenartikler zuhören: laut Pinterest haben 97 Prozent aller Suchanfragen noch keine konkreten Markeninhalte! Stellen Sie sich die Conversion Rate vor, wenn eine KI es schafft, die User Journey auf Pinterest mit dem Geschmack des Menschen zu kombinieren und ihm passende Angebote und Marken zu präsentieren.

Noch ist das Thema visuelle Suche in einem sehr frühen Stadium. Evan Sharp – einer der Pinterest-Gründer – vergleicht es mit den klassischen Suchmaschinen in den 90er Jahren und noch weiß niemand so genau, wo die Reise hingeht und welche Probleme die visuelle Suche lösen wird. Aber mit der rasanten Entwicklung intelligenter, lernender Systeme und dem technologischen Fortschritt in der Kamera- und Wireless Technologie, scheinen die Einsatz- und Umsatzmöglichkeiten grenzenlos.

Das hat nicht nur Pinterest erkannt, aber die Möglichkeit, die Sicht der Menschen als Suchmaschine zu nutzen, ist derzeit vermutlich einzigartig.

Dieser Text beziehst sich auf den Artikel „Pinterest Sees The Future –
How visual AI will change the way we eat, play, and shop“ des Autors MARK WILSON.

Quelle: https://www.fastcodesign.com/90152812/pinterest-sees-the-future